Leseprobe aus "ist der ruf ruiniert, folgt der mord garantiert"

 

 

 

Kapitel 1

 

 

 

 

 

»Schnell! Sie müssen mir helfen!«

 

Analyn zuckte zusammen, als ihre Bürotür aufgerissen wurde. Eine Frau mittleren Alters stürmte herein. Der Knall, mit dem der Türgriff gegen die Wand donnerte, war wahrscheinlich in der ganzen Ebbelheimer Polizeistation zu hören – mindestens aber im Obergeschoss. Unwillkürlich lehnte sich Analyn so weit wie möglich zurück, darauf gefasst, dass die Fremde gleich gegen ihren Schreibtisch rennen würde. Doch die Frau bremste in letzter Sekunde. Während sie nach Luft rang, flehte sie eindringlich: »Helfen Sie mir! Bitte!«

 

Nun tauchte Lissy im Türrahmen auf. Auch ihr Atem ging stoßweise, was sie nicht davon abhielt, sofort loszuschimpfen: »Was soll das denn? Sie können nicht einfach quer durchs Gebäude rennen! Das ist hier kein öffentlicher Bereich.« Dabei rückte sie mit einer Hand die dunkelblaue Krawatte ihrer Polizeiuniform zurecht, während die andere ihre langen Haare nach hinten streifte.

 

Analyn ließ ihren Blick zwischen den beiden Frauen hin und her wandern. »Worum geht es denn überhaupt?«

 

»Erpressung!«, rief die Frau außer Atem.

 

»Völlig egal«, antwortete Lissy.

 

»Ich mache das hier schon, Lissy. Danke.« Analyn deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Bitte setzen Sie sich.«

 

Die Frau gehorchte, berührte allerdings gerade mal die Stuhlkante. Ihr Blick wanderte von Analyn zu dem zweiten verwaisten Schreibtisch und kehrte dann wieder zu ihr zurück. Offensichtlich wog die Mittvierzigerin ab, ob ihr Anliegen bei einer so jungen Kommissarin noch dazu mit einem asiatischen Einschlag gut aufgehoben war. Aber in Ermangelung einer Alternative begann sie hektisch zu reden: »Bitte! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich habe so ein ungutes Gefühl. Nicht auszudenken, wenn ihnen etwas passiert!«

 

Erneut knallte die Bürotür. Diesmal war es Lissy, die sie lauter schloss als nötig. Betont ruhig sagte Analyn: »Mein Name ist Analyn Zettelmann. Ich bin Kommissarin. Vielleicht nennen Sie mir erst einmal Ihren Namen.«

 

»Müller-Ramsig, Tanja Müller-Ramsig.«

 

Analyn griff nach einem Kugelschreiber und zog ihren Notizblock ein Stück näher zu sich. »Und Sie werden erpresst, Frau Müller-Ramsig?«

 

»Nein.« Die dunkelbraunen Locken bewegten sich, als die Frau den Kopf schüttelte. »Nicht ich, mein Schwiegervater. Genauer gesagt, seine Firma.«

 

»Um welches Unternehmen handelt es sich?«

 

»WME – Werner Müller Entsorgungsbetrieb GmbH.«

 

»Sie meinen die Müllabfuhr?«, hakte Analyn nach.

 

»Ja, wir machen allerdings mehr als nur Müllabfuhr. Aber das ist doch jetzt völlig egal! Wir müssen die drei finden. Sie sind schon viel zu lange fort.«

 

»Ihr Schwiegervater und wer noch?«

 

»Zwei Mitarbeiter. Sie wollen das Lösegeld übergeben. Das heißt, eigentlich wollen sie genau das nicht. Ach, ich weiß auch nicht. Tun Sie doch endlich was! Lassen Sie uns hinfahren.«

 

Noch einmal öffnete sich die Bürotür. Diesmal betrat Analyns Chef, Hauptkommissar Beinert, den Raum. »Wir haben eine Erpressung«, sagte er zu Analyn. Der Flurfunk hatte offensichtlich beste Arbeit geleistet. »Um wen geht es?« Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch stellte er sich Frau Müller-Ramsig vor, drückte ihre Hand und blickte dann erwartungsvoll zu Analyn. Sie wiederholte die wenigen Fakten, die sie bisher notiert hatte. Währenddessen hatte Frau Müller-Ramsig sich bereits zu Beinert umgedreht. Analyn wurde unfreiwillig zur Protokollantin, während ihr Chef sich setzte und die Befragung übernahm. Das karierte Hemd spannte über seinem Bauch und Analyn überlegte kurz, ob der Knopf dem Druck standhalten würde. Dann hörte sie zu.

 

»Auf welche Weise haben Sie von der Erpressung erfahren?«

 

»Ein Schreiben ging bei meinem Schwiegervater ein.«

 

»Wie lautet die Forderung?«

 

»Vierzigtausend Euro.«

 

»Sonst?«

 

»Sonst sollen belastende Unterlagen an die Presse gehen.«

 

»Was für Unterlagen?«

 

»Ich weiß es nicht. Ich habe das Schreiben nicht gesehen. Das ist doch auch völlig egal. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

 

»Sie wären besser gleich zu uns gekommen«, stellte Beinert fest und strich sich durch seine leicht ergrauten Haare.

 

Frau Müller-Ramsig senkte den Kopf. »Das habe ich auch vorgeschlagen. Aber Werner wollte nicht.«

 

»Und jetzt ist Ihr Werner mit zwei anderen Männern und einem Koffer voller Geld unterwegs und spielt den Helden.«

 

Analyn konnte Beinerts Unmut verstehen und fragte nach: »Wissen Sie, wo die Lösegeldübergabe stattfinden soll?«

 

Frau Müller-Ramsig drehte sich zu ihr um. »Mein Schwiegervater wollte in den Taunus fahren – hoch zum Staufen. Dort muss es einen Bauwagen geben, wo er die Hälfte des Geldes deponieren sollte. Unser Mitarbeiter, Herr Kaverowski, begleitet ihn. Ein zweiter Übergabeort ist hier in Ebbelheim.«

 

»Gleich zwei Übergabeorte? Das ist aber ungewöhnlich«, sagte Analyn. »Wo genau in Ebbelheim?«

 

»Auf dem Friedhof – hinter einer Hecke bei irgendeinem Wasserbecken.«

 

Beinert hatte sich bereits von seinem Stuhl erhoben. Er wollte wissen: »Wer ist auf dem Friedhof?«

 

»Ebenfalls ein Mitarbeiter, Dimitri Pulstinow«, sagte Frau Müller-Ramsig und erhob sich auch. »Nicht auszudenken, wenn den Dreien etwas passiert. Sie müssen da eingreifen. Bitte!«

 

Beinert nickte. »Okay, Sie fahren jetzt nach Hause. Dort warten Sie auf weitere Nachrichten von uns. Wenn die Herren auftauchen, rufen Sie uns sofort an. Frau Zettelmann, wir schnappen uns jeder einen Kollegen von der Streife und sehen mal nach, was da los ist. Sie übernehmen den Friedhof, ich fahre in den Taunus. Sie wissen vermutlich sowieso nicht, wo Sie im Wald hinmüssten.«

 

Das war zwar richtig, denn so lange wohnte sie tatsächlich noch nicht im Main-Taunus-Kreis. Doch mangelnde Kompetenz ließ sie sich nicht gern vorwerfen. »Ich habe ein Navi«, entgegnete sie trotzig.

 

»Übernehmen Sie den Friedhof«, befahl Beinert. Ihr blieb nichts anderes übrig, als seiner Anweisung zu folgen.

 

 

 

***

 

 

 

»Aua!« Rosalie presste ihren Zeigefinger an die Lippen. Gleich darauf schmeckte sie das Blut auf ihrer Zunge. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ausgerechnet eine Hundsrose auf das Grab zu pflanzen. Die Dornen waren einfach hundsgemein. Immer wieder riss sie sich ihre Haut daran auf. Ihre faltigen Hände wiesen inzwischen fast genauso viele Kratzer wie Altersflecken auf. Andererseits war die Rose perfekt für ihre Zwecke. Bis zu dreihundert Jahre wurde diese Wildrosenart alt. So hatte es zumindest auf dem kleinen Informationszettel gestanden. Nicht, dass die Grabstelle ihres verstorbenen Mannes noch so lange bestehen würde. Auch wenn Rosalie uralt werden würde, bevor sie selbst ihre letzte Ruhestätte neben Karl fand, war dieser zeitliche Rahmen deutlich überdimensioniert. Aber Rosalie hatte der Gedanke gefallen, dass Dornröschen vielleicht hinter einer solchen Dornenhecke gut beschützt hundert Jahre auf ihren Märchenprinzen gewartet hatte. Niemandem war es zuvor gelungen, an den wunderschönen Schatz dahinter zu gelangen. Außerdem sahen die Blüten hübsch aus, sie leuchteten kräftig pink an den äußeren Blatträndern und zart rosa im Inneren. An einigen Trieben waren schon die Ansätze der Hagebutten zu erkennen, die mit ihrem hellen Rot in wenigen Wochen die Blüten endgültig ablösen würden. Ein untrügliches Zeichen, dass der Spätsommer bald in den Herbst überging.

 

Rosalie schaute auf ihre Fingerkuppe, aus der ein weiterer Blutstropfen hervorquoll. Irgendwo in ihrer Handtasche musste sie noch Pflaster haben. Sie richtete sich auf und trat auf den Kiesweg. Ihre Handtasche lehnte an der kleinen Hecke. Mit einer Hand suchte Rosalie in der unförmigen Tasche und beförderte eine Handvoll kleiner Plastikheftchen zu Tage. Die Päckchen mit der Aufschrift »Trostpflaster für jede Lebenslage« stammten von einem Werbestand des Roten Kreuzes. Gut, dass sie damals so beherzt in den Korb gegriffen hatte. Nachdem sie ihren Finger verarztet hatte, warf Rosalie die übrigen Pflaster in die Tasche zurück und betrachtete Karls Ruhestätte. Die Erde war hellgrau und trocken. Nur unter dem Rosenstrauch sah es aus, als habe dort ein Hund gebuddelt. Der Boden zog den Blick quasi auf sich, als wolle er sagen: Seht nur her, was dieser Strauch Besonderes hat. Das ging gar nicht! Rosalie griff nach der kleinen Harke, die immer unter der Hecke bereitlag und machte sich daran, die Erde überall aufzulockern.

 

Eine laute Männerstimme ließ sie aufhorchen. »Lass los, du Schwein!« Rosalie erhob sich, um besser sehen zu können. Nicht weit entfernt standen sich zwei Männer gegenüber, die an einer Art Rucksack zerrten. Von Größe und Statur schienen beide ebenbürtig zu sein. Der Dunkelhaarige mit der Jeansjacke machte einen geschickten Schritt zur Seite und schob gleichzeitig für eine Sekunde den türkisfarbenen Rucksack in Richtung seines Gegners. Im nächsten Moment zog er heftig in die andere Richtung. Der Mann mit dem grünen Sweatshirt geriet ins Taumeln. Sofort stürzte sich der Jeansjackenträger auf ihn. »Gib dich zu erkennen, du feige Sau«, krakeelte der Dunkelhaarige, doch der Sweatshirt-Träger wehrte sich. Aber der Andere hatte deutlich mehr Kraft und drückte plötzlich den Oberkörper seines Gegners samt Kopf nach unten. Rosalie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Ein Platschen, wie wenn jemand in ein Schwimmbecken sprang, tönte zu ihr herüber. Und tatsächlich spritzte Wasser in die Luft. Doch es handelte sich lediglich um ein Wasserbassin, in dem normalerweise die Friedhofsbesucher ihre Gießkannen auffüllten. Der Kopf wurde wieder hochgerissen und der Mann schrie erneut: »Also, wer bist du?« Als Antwort kam ein Röcheln, woraufhin er den Kopf erneut unter Wasser tauchte. Rosalie sah sich um. Niemand war weit und breit zu sehen, um diesem bizarren Treiben ein Ende zu setzen. ›Mord auf dem Friedhof‹, sie sah die Schlagzeile in der Ebbelheimer Zeitung bereits vor ihrem geistigen Auge. So schnell es ihre siebenundsiebzigjährigen Beine zuließen, rannte sie den schmalen Weg zwischen den Gräbern entlang. Die Harke fest umklammert, rief sie schon von weitem: »Aufhören! Sofort aufhören!« Doch dieser Aufforderung kamen die beiden Männer nicht nach, wobei der Mann mit dem Kopf im Wasserbecken sowieso keine Chance hatte, den Kampf entscheidend zu beeinflussen. Würde sie noch dichter rangehen, bekäme sie eventuell den einen oder anderen Hieb ab und wurde unweigerlich nass. So rasend wie sich der Jeansträger gebärdete, war er mit Worten sicher nicht zu erreichen. Rosalie blieb nichts anderes übrig, als ihrer Forderung mit der Harke Nachdruck zu verleihen. Das Adrenalin, das inzwischen auch ihren Körper durchströmte, verlieh ihrem Hieb ungeahnte Stärke. Es gab ein äußerst unschönes Geräusch, als die Spitzen der Harke auf den Schädel trafen. Der Dunkelhaarige griff sich schreiend an den Hinterkopf, wo sofort Blut zwischen seinen Fingern sichtbar wurde und auf seine Jeansjacke tropfte. Der grüne Sweatshirt-Träger nutzte den Moment, um aufzutauchen. In Nullkommanichts war er auf den Füßen, riss den Rucksack an sich und rannte, ohne Rosalie eines Blickes zu würdigen, über die Wiese davon. Der Mann vor ihr krümmte sich vor Schmerzen. Fast tat er Rosalie leid. Seine Platzwunde musste genäht oder geklammert werden. Sie wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als der Mann sie anschnauzte: »Was fällt Ihnen ein! Sie hätten mich fast umgebracht!«

 

»Unkraut vergeht nicht«, erwiderte Rosalie, fest entschlossen, nicht klein beizugeben. »Sie leben noch, aber Ihren Kumpel hätten Sie um Haaresbreite hier begraben können.«

 

Der Mann richtete sich langsam auf. »Das ist nicht mein Kumpel, sondern ein elendiger Erpresser. Ich hätte ihn geschnappt, wenn Sie nicht dazwischen gegangen wären.« Geräuschvoll spuckte er ins Gras. Er war kein sehr großer Mann, trotzdem überragte er Rosalie um einiges. Im Stillen schalt sie sich einen Dummkopf, überhaupt in den Streit eingegriffen zu haben. Was, wenn der Mann nun auf sie losging? Oder noch schlimmer, wenn er sie wegen Körperverletzung bei der Polizei anzeigte? Starr und sehr aufrecht blieb sie stehen und schaute dem Mann in die Augen. Dieser spuckte erneut auf den Rasen, tastete nach seiner Wunde, betrachtete anschließend das Blut an seinen Fingern und fluchte: »Zum Teufel mit Ihnen.« Dann drehte er sich um und ging langsam und gebückt davon. Rosalie fiel erst jetzt auf, dass sie noch immer den Arm in die Höhe streckte, die Harke fest umklammert. Allmählich löste sich die Anspannung. Sie senkte ihren Arm und ging nachdenklich zu ihrer Grabstelle zurück.

 

»War das jetzt richtig, Karl?«, fragte sie laut. Doch ihr Mann blieb ihr eine Antwort schuldig. Sie legte die Harke wieder unter die Hecke, nahm ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zum Ausgang. An der kleinen Eisenpforte wurde sie von dem grünen Sweatshirt-Mann fast über den Haufen gerannt, der mit erstaunlicher Energie auf den Friedhof zurückkehrte. Dass er vor wenigen Minuten fast ertrunken wäre, merkte man ihm nicht mehr an. Sein Gesicht verbarg er hinter einer dunklen Sturmhaube, wie sie Motorradfahrer zum Schutz vor Kälte unter ihrem Helm trugen. Hatte er diese Maske vorhin auch schon getragen? Wahrscheinlich schon, denn sie glänzte nass. Rosalie hatte viel zu sehr auf den anderen Mann geachtet, um sich daran zu erinnern. Sollte sie umkehren, um die beiden Streithähne erneut voneinander fernzuhalten? Sie könnte auch mit ihrem Handy die Polizei verständigen – aber der Akku war gerade leer. Außerdem war die Polizei selten eine gute Idee. Obendrein hatte der andere Mann den Friedhof bereits in die andere Richtung verlassen. Besser, sie steckte ihre Nase nicht schon wieder in die Angelegenheiten anderer Leute. Es roch nach Ärger, und dazu war dieser Sommertag viel zu schön.

 

Auf dem Gehweg kam Rosalie an dem Rucksack vorbei, der den Anlass für die Auseinandersetzung geboten hatte. Geöffnet lag er nun unter einer Hecke. Drum herum verteilten sich unzählige Rechtecke aus sorgsam zugeschnittenem Zeitungspapier. Wo manche Leute ihren Müll entsorgten, war schon erstaunlich. Dann entdeckte Rosalie einen Fünfzigeuroschein zwischen dem Altpapier, und ein Stück weiter lag sogar ein Hunderter. Doch die Geldscheine fühlten sich schon beim Aufheben merkwürdig an. Die Rückseite entpuppte sich als weißes Papier. Irgendjemand hatte sich einen Spaß erlaubt, Geldscheine fotokopiert, mit Zeitungspapier ergänzt und dicke Bündel geschnürt, die nichts wert waren. Wahrscheinlich hatte einer der beiden Männer den anderen betrogen. Rosalie war erleichtert: Sie hatte also dem Richtigen mit der Harke über den Kopf gehauen. Geschah ihm ganz recht! Das erklärte auch, weshalb der Mann wortlos verschwunden war, anstatt die Polizei zu rufen und sie wegen Körperverletzung anzuzeigen. Rosalie bückte sich nach dem Rucksack und hob ihn auf. Das Gezerre der beiden Männer hatte ihm nichts anhaben können. Das sprach für gute Qualität und eine solide Verarbeitung. Praktisch war die Plastikhalterung auf der Rückseite. Wollte man den Rucksack nicht auf dem Rücken tragen, konnte man ihn an einem Fahrrad einhängen. Rosalie entnahm ein letztes Päckchen Zeitungspapier mit einem gefälschten Hunderter aus dem Innenfach, warf es in einen nahen Abfalleimer und kehrte dann zur Eingangspforte des Friedhofs zurück. Es war alles ruhig. Keiner der beiden Männer war zu sehen. Auch gut! Ihr Bedarf an Auseinandersetzungen war für heute ohnehin gedeckt. Rosalie setzte sich die praktische Fahrradtasche auf den Rücken, hängte ihre eigene Handtasche über den Arm und machte sich auf den Weg zu Marius.

 

 

 

***

 

 

 

Hauptkommissar Beinert drosselte die Geschwindigkeit seines nagelneuen SUVs, als er den Waldrand erreichte. Der Parkplatz des Freibads war gut gefüllt. Ob die Leute tatsächlich beim Baden waren oder eher im benachbarten Indoorspielplatz, ließ sich schwer sagen. Der Kletterpark in den Baumwipfeln war jedenfalls verwaist. Als der Wagen auf den Waldweg fuhr, wurden die Rollgeräusche im Innern nur unwesentlich lauter. Lange hatte ihm das Autofahren nicht mehr so viel Spaß gemacht. Der neue Dienstwagen hatte viele PS und roch nach neuem Leder. Passform und Härtegrad der Sitze waren perfekt, der Sound des Autoradios dem der Elbphilharmonie gleichwertig. Beinert verringerte die Geschwindigkeit. »Die Schaltung geht butterweich.«

 

»Wie viel PS hat das Schätzchen denn?«

 

»Hundertneunzig. Dafür schluckt er allerdings etwas mehr.«

 

»Da hat sich Vater Staat ja mal nicht lumpen lassen. Das Teil werde ich demnächst auch für Verkehrsüberwachungen mit Zivilfahrzeug anfordern.«

 

Beinert lachte gutmütig. »Vergiss es. Den Wagen fahre ich allein. Jedenfalls die ersten tausend Kilometer. Aktuell sind es erst siebenundachtzig. Da kannst du also noch eine ganze Weile warten, bis du dieses Lenkrad in Händen hältst.«

 

Sie hatten Glück. Die Schranke, die Fahrzeuge an der Weiterfahrt in den Wald hindern sollte, war geöffnet. Beinert gab erneut Gas. Kurz überlegte er, den Allradantrieb zuzuschalten, aber das erschien ihm dann doch etwas affig. Vor einem Ausflugslokal standen einige Wanderer, die ihm mit eindeutigen Handbewegungen zu verstehen gaben, dass er hier zu schnell unterwegs war. Kollege Torsten nahm seine Polizeimütze vom Schoß, hielt sie kurz ans Fenster und umklammerte dann schnell den Haltegriff, als Beinert scharf rechts um die Ecke bog und weiter in den Wald hineinraste. Mehrere Fußgänger und Jogger sprangen zur Seite. Ein Pudel wurde von seinem Frauchen hastig auf den Arm genommen. Ihr Begleiter richtete sein Handy auf den Wagen und schrie ihnen etwas nach.

 

»Gleich laufen bei Lissy die Telefone heiß«, stellte Torsten fest.

 

»Macht nichts«, erwiderte Beinert. »Wir sind gleich da. Den Wagen lassen wir etwas unterhalb des Staufens stehen. Ich möchte mich erst ein bisschen umsehen, bevor man uns bemerkt.«

 

»Alles klar.« Torsten stemmte beide Füße in die Fußmatte, als ein Eichhörnchen todesmutig ihren Weg kreuzte.

 

Beinert grinste. »Mach mir mein Auto nicht kaputt. Es ist erst zwei Tage alt.«

 

»Dann fahr halt nicht wie der Henker«, konterte Torsten.

 

Tatsächlich verlangsamte Beinert das Tempo und bog in einen Forstweg ein, wo er den Wagen parkte. Die Männer stiegen aus und schlossen leise die Fahrzeugtüren. Dann kehrten sie auf den Hauptweg zurück und schritten zügig bergauf. Beinert kannte die Gegend gut von seinen Spaziergängen. Vom Staufen hatte man einen wunderbaren Blick bis hinüber zum Feldberg und auf die Skyline von Frankfurt. Dabei lagen einem die Ortschaften des Vordertaunus zu Füßen. Doch um die Aussicht zu genießen, war heute keine Zeit.

 

Beinert deutete nach vorn. »Hinter der nächsten Anhöhe kommt die Unterstellhütte. Rechts ist der Aussichtspunkt, linker Hand ist ein kleiner Platz mit einem Holzhaus für Waldarbeiter. Dort steht auch der Bauwagen, den Frau Müller-Ramsig erwähnt hat. Ich schlage vor, wir gehen hier links durch den Wald. Dann haben wir eine Chance, uns dem Bauwagen zu nähern, ohne gesehen zu werden. Du bleibst ein Stück hinter mir und sicherst mich ab.«

 

Torsten nahm seine Waffe in die Hand und antwortete mit gedämpfter Stimme: »Wird gemacht.«

 

»Pass auf, wo du hinzielst. Ich will nicht als Schweizer Käse den Wald verlassen.«

 

»Ich werde es versuchen«, versprach Torsten und fügte grinsend hinzu: »Waidmannsheil.«

 

Besser nicht, dachte Beinert und überquerte die ausgetrocknete Abflussrinne am Wegrand. Dann pirschte er tatsächlich leise wie ein Jäger durch den Wald. Mehrmals blieb er stehen und ließ den Blick durch das Unterholz streifen. Niemand war zu sehen. Gelegentlich knackte ein Zweig unter seinen Schuhen. Allerlei dicht belaubtes Gestrüpp und junge, nachwachsende Bäume erschwerten die Sicht. Beinert umkreiste mit einigem Abstand die Waldarbeiterhütte und den Bauwagen. Als er niemanden entdecken konnte, trat er schließlich auf den Waldweg und ging direkt auf den Bauwagen zu. Eine Patina aus Moos und Schmutz überzog die dunkelgrüne Wandfarbe. Drei Eisenstufen führten zu einer Tür, die jedoch verschlossen war. Leise trat Beinert an das Fenster. Das Wageninnere war leer, wenn man von einem Tisch, zwei Bänken, einem Ofen mit einigen Holzscheiten davor und einem Knäuel Plastiktüten auf dem Fußboden absah. Das Ofenrohr kam an der Vorderseite aus der Wand und überragte das Dach um einen knappen Meter. Hier befand sich auch die Deichsel. Sie war länger nicht mehr benutzt worden, denn anstelle von Rädern hatte man Steinplatten an allen vier Ecken unter den Wagen geschoben. Wegfahren konnte hiermit niemand mehr.

 

Ein Metallfach oberhalb der Deichsel zog Beinerts Aufmerksamkeit auf sich. Er schätzte dessen Front auf einen Meter Breite und Höhe und seine Tiefe auf etwa dreißig Zentimeter. Das war der ideale Aufbewahrungsort. Tannennadeln und Laubreste hatten sich im Laufe der Zeit auf dem Stauraum angesammelt. Der Metallriegel davor war nicht mit einem Schloss gesichert. Beinert streifte sich Einweghandschuhe über. Dann ruckelte und zog er so lange an dem Riegel, bis dieser nachgab. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf. Er kam sich vor wie ein Schatzsucher. Tatsächlich entdeckte er eine türkisfarbene Fahrradpacktasche.

 

Diese war prall gefüllt. Beinert hob sie an und maß ihr Gewicht. Papier wiegt schwer, dachte er. Die Gurte, mit denen man sich die Tasche wie einen Rucksack auf den Rücken schnallen konnte, waren praktisch. Neugierig stellte Beinert die Packtasche auf die Deichsel und öffnete sie. Seine Erwartung wurde nicht enttäuscht. Mehrere dilettantisch nachgemachte Geldbündel täuschten einen Wert vor, der hier schon auf den ersten Blick nicht gegeben war. Hinter ihm knackte es. Torsten kam näher. »Wir haben das Lösegeld gefunden«, sagte Beinert und drehte sich um. Doch statt seines Kollegen tauchte ein kräftig gebauter Mann in seinem Blickfeld auf. Dessen Stiernacken passte perfekt zu dem Funkeln in seinen Augen und zu seinem heftigen Atemgeräusch. Noch bevor Beinert realisierte, wie ihm geschah, wurde ihm der Rucksack aus der Hand gerissen und nahezu zeitgleich sein Arm auf den Rücken gedreht. Ein knallendes Geräusch, gefolgt von einem stechenden Schmerz, der durch sämtliche Nervenbahnen seines Körpers schoss und sich schließlich in der Schulter bündelte, ließ Beinert aufschreien. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Er hätte kotzen können, aber sein Magen gab nichts her.